Zirkus Zirkulär


Aus Kapitel 3
Bob, der Clown, hatte vor, Flower ein Gedichtchen rund um den Buchstaben Z aufsagen zu lassen. Doch seine Partnerin brachte, trotz aller Mühe, nur ein schluriges Ächzen zustande, und so würde er es vielleicht selbst zu Gehör bringen, wenn ihm danach war.

Zar zwingt zwei Zwergpudel zur Zusammenarbeit Zierliche Zedern zwitschern am Zaun
Zynthia zaudert doch Zahn um Zahn zaubert sie sichaus der Zelle
Zeile um Zeilezieht sie zitternd Zeppeline ins Zalando zappelt zur Zysterne
Zaghafte Zynthia zaudere nicht Am Zielzitieren wir zwei frühere Zeiten

Während er es nun probeweise leise aufsagte, kämmte er der Äffin das Haar, das in Borsten über der Stirn nach oben stand. Es knisterte, lud sich elektrisch auf, doch er fuhr mit der Bürste weiter hindurch und versuchte es zu glätten. Da schüttelte sich Flower und zog eine Grimasse, als schmecke sie Ekelhaftes auf der Zunge. Als Bob seine Hand zurückziehen wollte, begann sie an seinem Handgelenk zu lecken, das ihr an diesem Tag überaus bleich vorkam und nicht zum Ärmel seines königsblauen Jacketts passen wollte. Der Clown trug diese Jacke, weil er bei seinem ersten Besuch im Theater, in dem nun Auftritte vorgesehen waren, ein ähnliches Blau wahrgenommen hatte. Aufmerksam hatte er sich den vernachlässigten Raum angeschaut und auf jedes Knarren in den hölzernen, mit dem Boden verschraubten Sitzreihen gelauscht. Feuchtigkeit hatte die Samtbespannung der Wände aufquellen lassen, die gestickten silbernen Schneckenornamente mit den blauen Einschlüssen waren aber noch deutlich zu erkennen, wie ein Augenaufschlagen. In den vielen Jahren, in denen diese Räumlichkeit nicht mehr genutzt und angesehen worden war, kämpfte hier alles gegen das Vergessen Werden.
Am Abend der ersten Vorstellung hatte jeder Artist andere Bedenken. Ines fragte sich sogar, ob man vor leerem Haus auftreten würde. Doch der Saal füllte sich von einer zur anderen Minute. Polo, der Impressario, konnte es kaum glauben, als er die Gestalten erscheinen sah. Sie schlurften in die knarrenden Sesselreihen, und als sie niedersanken, verschmolzen ihre blassen Gesichter mit den fleckigen Polstern.
Die Gesellschaft schien Polo vergreist, doch voller Erwartung. Er roch etwas Süßliches, das sich in den Minuten vor Beginn im Raum verbreitete, etwas das ihn an Jasmin oder Rosenduft erinnerte. Den anwesenden älteren Frauen traute er nicht zu, dass sie sich dermaßen parfümiert hatten, der Duft wurde immer intensiver. Er dachte, dass es seine Sehnsucht nach dem Aufblühen der Show, dem glücklichen Gelingen war, die das herein Getragene verstärkte. Dompteure und Akrobaten nahmen den Duft jedoch anders wahr, Gorgo sagte: “Riechst du, wie ausgehungert diese Leute sind?”
Als der Vorhang auseinander schlug, fehlte ihm jede Eleganz.
Ja, wahrscheinlich hatte man zu lange gewartet, und das Publikum seufzte, als wäre es unsanft geweckt worden. Es war zu viel geschehen, täglich rechnete man mit Schlimmerem. Was einem einmal gehört hatte und lieb gewesen war, hatte man durch diese Infektion, diesen allgemeinen Aufruhr, der sich rasend ausbreitete, verschwinden sehen. Polo hatte den Sturz der Stadt erlebt, in der er gelebt hatte. Alles schlug um sich, keiner hatte versucht, es zu verhindern, und gewissenlose Kräfte hatten das Niedergefallene an sich gerissen. Sie waren aus dem Bodenlosen geschossen und hatten es zertreten. Polo stand in den Kulissen, als die Vorstellung begann. Der Truppe war keine Unsicherheit anzumerken.
Bobs Allüren fand er großartiger denn je. “Was dieser Kerl heute für eine Fratze zustande gebracht hat – zum Totlachen”, wisperte Mädel Polo zu. Flower und ihr Partner nickten sich beim gemeinsamen Abgang einvernehmlich zu. Beim Balancieren über den Spazierstock hatte die Äffin besser denn je ausgesehen, hatte sich für zwei, drei Minuten beinahe schwerelos gefühlt, als sie Unsinn grölend auf den Clown zu getrippelt war und am Ende mit ihm getanzt hatte.Georgetta, die Biegsame und Mädels Trapezkünste waren wie meist atemberaubend. Mit fünfzehn/sechzehn hatte Mädel drei Beinbrüche zu verschmerzen gehabt, doch keine Ruhe gegeben, und alle ärztlichen Vorbehalte in den Wind geschlagen. Immer wollte sie noch höher hinauf, einmal sogar auf einem schrägen Seil bis zum Kirchturm. Willst du nicht lieber Sängerin werden, fragte man sie mehrfach, du hast doch eine so schöne Stimme. Da hungerte sie, bis ihr Brustumfang schrumpfte und sie das Volumen für eine Singstimme verlor. Sie hatte bei einer Tänzerin Stunden genommen. War nicht davon abzubringen gewesen, bis sie die Ballettschritte beherrschte, die als Akrobatin auf dem Seil nötig waren. Ich habe die Kontrolle, verkündete sie. Ihr damaliges Umfeld hatte noch zu bedenken gegeben: Und wenn du schlafwandelst, was dann? Nun, sie hatte sich das Schlafwandeln ein für allemal verboten.
Ovationen hörte man an diesem ersten Abend nicht, das Publikum schien dazu nicht in der Lage. Viel zu betäubt, vielleicht überwältigt starrte man. In der samtigen Wandverkleidung, die die schwachen Ahs und Ohs schluckte, schien das Geschehen auf der Bühne aber nachzubeben. Diese Regung war kaum wahrnehmbar, doch die Artisten brauchten ein Echo, wollten Antworten auf die Empfindungen, die sie durchströmten. Als das Saallicht aufflammte, schien sich jede Anspannung zu lösen, endlich sah man erstarrte Hände applaudieren. Während gerötete Köpfe sich aus den Sesseln hoben, als der Raum sich leerte, blieb etwas in ihm zurück. Aufgestauter Staub tanzte und stand dann wie ein glitzernder Vorhang in der Luft.
Ein Gefühl vorsichtiger Zufriedenheit begleitete Polo hinaus. Die Lichter hinter ihm erloschen schnell, sodass sich einige Akteure im Dunkel von der Garderobe hinüber ins Hotel tasten mussten. Körper und Gehirn konnten noch nicht loslassen, mit allen Fasern hatte man zum Publikum gesprochen. Die Augenblicke des sich Verschenkens gingen meist rasch vorüber, was aber gewesen war, klang noch nach. Wie so oft musste man es abschütteln, musste reden, ein Glas trinken, sonst geriet man in einen Zustand, in dem sich das Durchlebte in Endlosschleife wiederholte.
In den kommenden Tagen fanden vier Aufführungen statt. Einige Unsauberkeiten in der Ausführung nahm man hin, ohne dass darüber geredet wurde. Man wusste, wie Perfektion zu erreichen war.
Im miserabel beleuchteten Flur des Hotels, von dem es in winklige Zimmer ging, trieb es die Zirkusleute zueinander. Plötzlich hockten welche zusammen, die sich in letzter Zeit kaum noch etwas zu sagen gehabt hatten. Türen wurden aufgerissen und geschlossen, Ideen, Fragen und Antworten schwirrten umher. Polo hörte den Satz: “Dieses Theater ist nicht der richtige Raum. Er hat keine Akustik, ich spüre kaum Resonanz.”
Bikel verließ eines Abends als letzter den Ort. Da fiel sein Blick auf die Gestalt eines Zuschauers, der, über zwei Sessel gekrümmt, anscheinend schlief. War er verletzt? Der Mann fuhr zusammen, als Bikel sein Knie berührte und versuchte sich langsam aufzurichten. Kraftlos schlenkerten seine Arme. Bikel roch den Alkohol.
Plötzlich glaubte er, Enzo vor sich zu haben. Hatte der Betrüger, ohne dass jemand davon wusste, es hierher geschafft? Es war nicht Enzo. Der Mann begann sich zum Ausgang zu schleppen, war noch nicht wirklich zu sich gekommen. Misstrauisch lugte er über die Schulter, blieb stehen und stieß Fremdländisches aus. Bikel verstand: “Warum hast du Jason gestern abstürzen lassen wollen? Hat er dir was getan? Ich sag dir eins, der ist im Gegensatz zu dir ein wahrer Künstler. Hat heute eine Topvorstellung abgeliefert.”
Was nahm sich der Kerl heraus? Er hätte ihn gerne auf die Straße gestoßen, doch da standen Bob und Sally.
Sally ging vieles durch den Kopf, wenn sie in den finsteren Raum schaute, der über so vieles schwieg. Hier und da erreichte sie doch ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Etwas aus den Wänden wollte ihr zureden. Sally roch den Schweiß der Kollegen, sah die Vorhänge aus Staub.
Enzo hatte ein Repertoire von gewitzten, unterhaltsamen Stücke im Programm etabliert, doch Sally schrieb an einer eigenen Geschichte und hoffte, diese bald aufzuführen. Noch spielte sie Enzos Stücke fast so, wie er es ihr beigebracht hatte. Als sie aber zu spüren glaubte, wie sich die Blicke einiger Zuschauer regelrecht an den Akteuren festsaugten, begann sie sie flotter agieren zu lassen, viel flotter, als Enzo es jemals für richtig befunden hätte. Neue Wendungen der Handlung fielen ihr ein. Obwohl sie versteckt am Boden der Kastenbühne hockte, übertrug sich ihre Mimik auf die Züge der Darsteller.
Da saßen Kinder vor der Bühne, obwohl man in der Stadt keine Kinder gesehen hatte. Sie überwanden ihre Scheu, trippelten mitten im Stück näher. Wenn sie sich nach der Vorstellung hintereinander aufstellten, zur Spielrampe hoch sprangen und der Puppenspielerin durch die Stoffhände der Figuren hindurch die Finger drückten, fand Sally das schön.
Nach den Vorstellungen ging Polo jedes Mal die Sitzreihen im Theater ab, sah nach, ob nicht etwas liegen gelassen worden war, das zu Beschwerden führen konnte. Wenn es ein- mal so war, rückte eine Abordnung des Bezirks an und meinte, jemand vermisse seit gestern ein wertvolles Stück. Das klang, als würde dem Zirkus ein Diebstahl unterstellt. Es war vorgekommen, dass ein Besucher bei der darauf folgenden Vorstellung auf das Liegen Gelassene stieß und über das im Weg Liegende fluchte. Dieser Müll sei eine unzulässige Belästigung, hieß es. Polo, als dem Verantwortlichen, wurde es angelastet. Wie schwer fiel ihm, sich dann ruhig zu verhalten, und sich mit einer Verbeugung zu entschuldigen.
Heute fand er einen Schal, sogar ein Täschchen mit Klimpergeld. Warum musste das sein? Gleich würde er es bei der Kommandantur abgegeben. Er setzte sich, geriet in Versuchung einzunicken. Sein Blick fiel auf die Ornamente an den Wänden, und er dachte, dass es keine Schnecken waren, sondern Einschüsse.
Das Hotel auf der anderen Straßenseite, in dem die Truppe Quartier bezogen hatte, wirkte ähnlich düster und mitgenommen wie das Theater. Beide Häuser, die einmal voller Ereignisse und interessanter Begegnungen gewesen waren, wirkten, als müssten sie irgendwann miteinander verbunden gewesen sein. Die Gebäude waren für verschiedene Zwecke gebaut, hatten jedoch etwas Spiegelbildliches.
In Polos Zimmer wartete Stockman, der Verbindungsmann. Er kam oft vorbei, um zu schauen, vielleicht zu spionieren. Irgend ein Anliegen schob er immer vor. Er rief: “Sind die Herrschaften gut gelaunt? Wie stehts um das Familienleben der Truppe?” Da fragte ihn Polo, aus welcher Zeit das Theater stamme und ob das Hotel nicht für die Gäste gebaut worden sei, die früher zu den Komödien und Dramen im Theater anreisten.
Er lebe noch nicht sehr lange hier, antwortete Stockmann. Doch könne er soviel sagen, dass sich das Theater mit der Zeit einen guten Ruf erworben habe. In einer Broschüre, die auf dem Schnürboden gelegen hatte, stehe, dass schon vor über zweihundert Jahren hier Operetten und Dramen aufgeführt worden waren.
“Musentempel wurde das Gemäuer genannt”, erzählte er. “Auch Premieren soll es gegeben haben, die wirklich Renommee machten. Ein gewisser René Moulin soll ein Stück von Kafka herausgebracht haben, ein vollkommen verschollenes. Im Nachlass von Kafkas letzter Freundin soll es von diesem Moulin aufgestöbert worden sein, was aber unwahrscheinlich ist. Kein Mensch hat das Manuskript je zu Gesicht bekommen, außer dem Entdecker, der damit eine Weile hausieren ging, bis er hier damit Aufsehen erregte, indem er es auf die Bühne brachte. Das Stück hieß, wenn ich mich recht entsinne, “Der Fächer der Herzogin”. Berühmt wurde daraus der Satz: “Lass mich deinen Fächer bemalen.” Den Satz sagt im zweiten Akt ein Künstler, ein Verehrer der Herzogin. Er will damit andeuten, dass sie doch etwas Schönes sehen müsse, am nächsten Morgen auf ihrem Weg zur Guillotine.
Das Hotel, dem Theater vis á vis, wurde bereits vor dem Theater erbaut. Es ist eines der ersten Warenhäuser der Welt gewesen, sah aber anders aus, nicht mit dem Bau vergleichbar, der heute hier steht. Zweimal wurde das Haus rigoros zerstört und jedes Mal etwas anders wieder aufgebaut. Zuletzt zog hier eine Metzgerei ein, und der umfangreiche Clan des Metzgers baute die Räume über die Jahre für seine zahlreiche Familie und deren Bedürfnisse um. Erst vor einem Jahr gab ein betagtes Paar, das fernab jeder erfolgreichen geschäftlichen Aktivität und von möglichen noch existierenden Familienangehörigen getrennt darin lebte, seinen Laden auf und zog weg. Erst da überlegte sich die Stadt, wieder ein Hotel aus dem Haus zu machen.”
Polo hätte gerne etwas über die Möglichkeit eines Tunnels zwischen Theater und Hotel gehört. Unter der Straße musste er hindurch führen. Hatte er sich nicht in einer Nacht einige Meter hinein gewagt und ihn plötzlich vor sich einstürzen sehen? Wahrscheinlich war der Gang zugeschüttet, Polo glaubte, seine Wände berührt zu haben. Der Tunnel musste eine wichtige Funktion erfüllt haben.
Wenn er jetzt in seinem Zimmer eine freie halbe Stunde allein verbrachte, Bob sich auf einem Gang durch die Stadt befand, war ihm oft, als ob sich noch jemand außer ihm, jemand, den er nicht sah, im Raum befand, vielleicht eine Verwandte oder sogar die Tochter des Metzgers. Sie machte sich in einer Ecke zu schaffen. Wenn er aufsah und die Junge, Blasse seinen Blick bemerkte, flüsterte sie, ob sie ihm helfen könne. Seine Truppe müsse doch etwas Herzhaftes zu sich nehmen. Sie fragte, ob sie den Artisten dieses Herzhafte hinüber zur Bühne tragen solle oder ob sie ihm, dem Impressario, bei der Vorbereitung der Abendvorstellung behilflich sein könne.
Polo beachtete das Gespenst nicht weiter. Er musste sich seinen geschäftlichen Unterlagen widmen, nahm sich seine Listen vor und strich darin herum, bis er die Geräusche des Stift, nicht mehr aushielt. Das Papier ging ihm aus, und er suchte nach neuen Bögen, begann neue Listen.



Ausschnitt 4te Szene aus dem Schauspiel: “Zirkus Zirkulär”
(Nach dem gleichnamigen Roman von Christa Estenfeld)

Tierarzt: “Du solltet dir von deinem Liebling ein anderes Bild machen, solltest vielleicht nicht mehr soviel mit der Äffin diskutieren.
(Er reicht Bob ein Fläschchen.) Gib ihr dies bei Bedarf sparsam ein. Nur ein leichtes Abführmittel, es hilft. Diese Exotin besteht wie der homo sapiens vorwiegend aus Wasser. Ihre Körpersäfte sind in Gefahr sich zu trennen. Fahr am besten mit ihr ans Meer, wegen des Salzgehalts in der Luft und der Beziehung zu einigen Fischarten. Vielleicht kann Flower dort wieder aufblühen.
Manchmal behandle ich auch einige Menschen, bedenkliche Notfälle. Giftige Erde haben sie sich einverleibt, aus Hunger. Einige sind bereits so durchlöchert, dass ihnen ihre geschrumpfte Seele entkommt. Sie existieren aber weiter, denn ihre Körper können vieles aushalten. Gebückt schleichen sie zu mir, mit zerrüttetem Geist.
Auch dieser Affe geht gebückt, und sein Geist hat ebenfalls gelitten – ein Phänomen, auf das man jetzt überall triffst. Etwas hat Flower traumatisiert. Das ist kaum zu korrigieren, da kann ich nicht eingreifen. Solche Traumata nehmen jetzt überhand, sie werden sich durchsetzen.”

Bob: “Flower träumt tatsächlich gerne. Der Zirkus wandert ziellos, auch er ist in Not, ist den schlimmsten Zwängen ausgesetzt. Kaum haben wir an einem Ort das Zelt aufgebaut und das Lager eingerichtet, heißt es, wieder zusammenpacken. Ich werde Flower neben mir im Bus reisen lassen, denn im Lkw ist sie Stößen ausgesetzt, und der Tiger brüllt ihr seine Unlust ins Ohr.”

(Ein Trompetenstoß)

Bob: “Muss mich beeilen, wir müssen weiter.”

Tierarzt: “Das Reisen in Flowers Zustand ist gefährlich. In welche Richtung solls denn nun gehen?”

Bob: “Wir wollen nach B., sollen dort im Innenhof einer Altenresidenz auftreten. Die Mutter einer unserer Akrobatinnen wohnt dort.”

Szenenwechsel:(Projektion, düstere Innenhof-Fassade der Altenresidenz)

(Turs und der Tiger im Käfig)

Turs(zum Tiger): “Die Vorstellung wurde abgesagt, Gelbgestreifter. Den Alten wurde vor kurzem ein Heilschlaf verordnet, den man nicht stören darf. Alle Kollegen scheinen erleichert. Vielleicht können wir uns hier ein bisschen erholen.”

(Turs sammelt Reifen und eine Peitsche vom Boden, die für die Raubtier-Nummer vorgesehen waren. Er achtet nicht darauf, was der Tiger von sich gibt.)

Der Tiger: “Sollte hier bestimmt wieder Grimassen schneiden und mich gebärden, meinen Herrn wieder nahe an mich heranlassen Kein Muskel bewegt sich in solchen Momenten in meinem Gesicht. Einer der Zuschauer schrie mal in die Manege, es zeige sich große Verachtung in meinem Blick. Doch so weit würde ich nicht gehen. Verachtung ist das nicht, auch keine Furcht, nur unendlicher Überdruss. Niemand soll über den Blick des Tigers spekulieren.
Meistens gehts darum, dass ich auf meinen weichen Pfoten um Turs herum schlendere. Auch will mein Herr, dass ich ihn ansehe, wenn er Kommandos gibt, dass ich auf Pontons oder durch Reifen springe. Da zögere ich gerne ein wenig und raune dem Dompteur in seinem lächerlichen Glitzerkleid gerne etwas zu, das will er nicht hören.
Manchmal will ich zurück in den Wald. Könnte den Schwächlingen, die sich jetzt dort verstecken, sich freie Kämpfer nennen und sich feige ducken, wenns drauf ankommt, durchaus die Stirn bieten. Sie vergießen Blut, doch wie zufällig. Sie lassen es verkommen, anstatt es aufzulecken. Ich könnte ihnen die Hölle heiß machen. Vielleicht würde mir das gut tun, denn das Publikum schenkt mir in letzter Zeit nicht die gebührende Aufmerksamkeit. Der Impresario dieses Unternehmens will dem Publikum ein Stück vom Garten Eden malen – das bringt er nicht fertig, die Leute lässt das kalt. Da wirft er Perlen vor die Säue.
Die um die Manege hocken, trauern verlorenen Dingen nach. Beispielsweise einem Haus, das in Sturzfluten unterging. In meinen vier Wänden, sagen sie, konnte ich tun und lassen, was ich wollte, konnte mich wälzen, alle Viere von mir strecken, oder mir den Partner zum Schäferstündchen holen. Jetzt kann ich kaum noch Luft schnappen.
Will keinen dran hindern, sich seiner Lieblingsbeschäftigung hinzugeben, doch die wissen gar nicht, was sie wollen. Wäre jetzt wirklich nötig, dass alle sich bescheiden einen Käfig teilen. Der Raum im Universum wird knapp.”

(Turs rollt den Käfig mit Tiger ins Off.)

(Ein Bett wird von einem Pfleger auf die Bühne gerollt. Inez Mutter sitzt, Kissen gestützt, darin, übertrieben geschminkt, in einem ärmellosen Nachthemd. Inez läuft nebenher.)

Inez: “Träumst du, Mutter? Hast du meinen Dreifachen am Trapez gesehen? Der Zirkus gefällt dir doch oder?”

Mutter: “Jemand hat die Peitsche knallen lassen, das hab ich gehört. Inez, nein sowas! Das ist aber riskant, was du treibst. Früher bist du so klug gewesen. Und jetzt? Man kann ja kaum hinsehen, was du da treibst. Höre Kiefer knacken, ein Raubtierer reißt sein Maul auf, und jemand steckt seinen Kopf hinein. Ziemlich lustlos gähnt die Bestie, sie muss diese Nummer schon seit längerem als unangenehm empfinden. Eine, die das Zimmer neben meinem bewohnt, winselte bei dem Anblick wie ihr toter Hund einmal winselte. Die Frau fragte mich, was das für Ungeziefer wäre, zwischen dem sie feststeckt, und warum man hier so schreit. Das sind vorlaute Kinder. Auf den Gängen machen die manchmal ein bisschen Krach, laufen Rollschuh. Von eurem Auftritt waren die angetan, die kennen ja nichts besseres.”

Inez(leise): “Ach, Mutter, du könntest dir trotz der Verhältnisse etwas Gediegeneres, als dieses Heim leisten. Denk an die Villa, die wir beide mal bewohnten. Warum bestehst du auf diesem altbackenen Bett? Aber klar, du Eigenwillige, willst deine Lebensumstände wohl so und nicht anders.”

Inez Mutter(schreit): “Sprich leiser, schließlich bin ich nicht schwerhörig. Du und deine Kumpane – das sind doch halbseidene Geschöpfe. Sterngucker, Tier- und Menschenquäler seid ihr alle.”

(Die Mutter gähnt. Dann versinkt sie in den Kissen und winkt Inez zum Abschied.)

“Zeit für dich, aufzubrechen. Auf Wiedersehen in einem Jahr. Da ist vielleicht im Heim ein Platz frei, und man kann dir ein Bett hinstellen.”

(Das Bett wird vom Pfleger ins Off gerollt, Inez folgt ihm.)