Entsetzlich anheimelnd


Auf der ersten Seite ist schon alles infiziert: ein Mädchen spielt im Pflegeheim Josefsstift das Christkind, gehüllt in das Spitzennachthemd einer der alten Frauen. Seine mageren Schulterblätter stechen hervor – die Engelsflügel. Eine „blutrote“ Blume zu Füßen der Madonna hypnotisiert den Blick der kleinen Keti. Ein Glück, dass sie den Jesusknaben, den sie herum zu tragen hat, nicht fallen lässt. Christa Esterfelds Erstling „Die Menschenfresserin“ beginnt mit einer abgründigen Weihnachtsgeschichte. Das Geburtsfest Christi ist die Zeit der Wünsche, der Geheimnisse, der Wunder. Für Keti ist es eine Zeit größter Verunsicherung und schwierigster Lebenserfahrungen von Zerfall und Tod.

Christa Estenfeld ist eine leise Erzählerin. Ihre Qualitäten sind eher unspektakulär: Genauigkeit, Konsequenz, Offenheit, Dichte. Doch die Erzählungen haben eine magische Anziehungskraft. Sie sind dunkel und schön. Und sie treffen ins Herz. Der wiedergeborene Joseph Conrad könnte Christa Estenfeld heißen. Auch ihre Geschichten geraten in die Wälder und Urwälder, anziehende und gefährliche. Alles darin ist „regellos, aber durchdrungen von einer zwingenden Logik“. Auch Christa Estenfelds Texte handeln von den tödlichen Umarmungen des Dschungels, von Gesetzmäßigkeiten, die unsere Gesetze nur ahnen können. Im Grenzland zwischen empirischer Wahrnehmung und obsessiver Vorstellung entstehen die Seelenlandschaften als Begegnungsorte von Leben und Tod.

Der Duktus dieser Prosa ist ruhig und klar. Aber gerade seine Gleichmäßigkeit, ja Indifferenz ist das süße Gift. Die Erzählperspektive bleibt immer die des Zuschauers. Und wenn das Ich erzählt, schaut es sich selber zu, als hätte es an sich kein Interesse. Nicht nur in der Titelgeschichte widerstreitet dem labilen Zustand des Ichs diese Kraft zum Außersichsein. Von Menschen in Extremsituationen ist das bekannt. So geht die von einer schweren ansteckenden Krankheit befallene Frau auf der Insel, auf der sie ausgesetzt wird, an Land, eine Königin der Einsamkeit. Es ist ihr Triumph, hier einzugehen ins Animalische und Vegetative.

Die Dinge geschehen in Christa Estenfelds Erzählungen nicht unerwartet. Doch den Blick auf ein nahes, schreckliches Ende fixiert, erscheint dem Leser jeder Satz als Verzögerung, Ablenkung, falsche Fährte. Am Ende weiß er, es wäre genau das gewesen, worauf er hätte achten müssen. Er kommt immer zu spät. Da ist die Metapher vom dicken „Fischzug“ den der Werbemann Lennart macht. Ihm folgt das Fischessen mit dem Kunden – und die Fischvergiftung. Auf dem T-Shirt des Kunden wäre es zu lesen gewesen: „Internationale t.o.t. GmbH“. Der Kunde war der Tod. Die Sekretärin hat ihm noch den Kopf auf die Knie gelegt. Post festum ist alles ein Zeichen.

Tod, Leben: vielleicht erübrigen sich die Begriffe. In der feuchten, schweren Luft der Regenwälder bilden sie ein grausames Gleichgewicht. Die Insektenforscherin Vera in der grandios verstörenden Erzählung „Vergeltung“ erfährt am eigenen Leib, was sie erforscht. Die Geschichte ist ein Albtraum – aber was genau, darin ist Traum? Nach einem Kongress sitzt Vera mit ihrem Kollegen erschöpft im Seafood-Restaurant; – eine Languste wird kunstvoll zum Tode hergerichtet. Dann verbrennt sich der Koch die Hände . . . „und Vera erwachte“. Sie erwacht auf einer Forschungsreise im Urwald, die sie für ihren jetzt tödlich verunfallten Kollegen fortsetzt. Vera drängt, sie ist im Rückstand. Der Führer bleibt gleichgültig. Die Mulis erkranken, bei Zigeunern leiht sie sich Ponys. Die Zigeuner sind Kettenraucher. Einer lässt die letzte brennende Zigarette ins Wasser fallen. Vera wird „verurteilt“: Sie muss in der Nacht Streichhölzer holen. Die Ponys rennen gegen einen Baum, zwei Männer vergewaltigen Vera. Doch nicht die Kette der Ereignisse ist von kafkaesker Logik, sondern die Tatsache, dass Vera die Formel dafür von Anfang schon kennt: die der Metamorphose der Insektenlarven als Koinzidenz von Leben und Tod. „Doch war es nicht ähnlich wie zuhause? Hielt der Dschungel nicht ähnlich entsetzliche Uberraschungen bereit, war er deshalb hicht auch anheimelnd?“ fragt Vera.

Christa Estenfelds Erzählungen müssten vor Verweiflung schreien, aber genau das tun sie nicht. Die Figuren gehen weiter in ihrer Geschichte. Als würden sie jetzt ein ewiges Leben beginnen.

SAMUEL MOSER in: Süddeutsche Zeitung / Literatur / 13.10.1999
über den Christa Estenfelds Erzählband „Die Menschenfresserin