Endlich Ruhe


Heilloses Gestammel, der unaufhörliche Fluß sich schleppender, sich gleichender Anträge! Diese Forderungen aus allen Himmelsrichtungen! Die Millionen Nadelstiche durch die Ohren, durch die Augen ins Gehirn! Soll es nicht genug sein, irgendwann? Muß nicht auch ich Atem holen, ausschlafen? Nein wirklich! Ihr braucht mich nicht gläubig anzustieren wie einen eurer öligen Götzen! Ihr seht nichts anderes, als wenn ihr nach euren Büroabenden, ja, ich setze voraus, ihr arbeitet bis spät in die Nacht, in euren Badezimmerspiegel seht: Man sagt, es ist ein graues Gesicht.

Ich weiß nicht, bin ich einer von euch? Ihr seid wie die Käfer mit den ewig zappelden Beinen. Ihr gebt keine Ruhe. Meiner Mutter, obwohl das einige sagen, sehe ich nicht ähnlich. Ich bin nicht wie ihr. Ich bin ganz anders. Und verpflichtet fühle ich mich schon gar niemandem. Manchmal reicht es einfach. Da ziehe ich mir den Pullover oder mein Jacket über den Kopf und will nur bei mir, bei uns, sein.

Ich kleide mich meist in einfache, leicht kratzende Sachen, kann mich nicht von diesem Schweißtuch trennen, das meine Existenz so fadenscheinig nachzeichnet. Ihr wollt anderes, alles von mir. Doch das Imperium gehört der anderen Generation. Ich sage euch glatt, die hat es mir noch nicht überschrieben. Natürlich funktionieren die Beraterverträge. Untereinander sind wir verwoben, das könnt ihr euch natürlich nicht vorstellen! Ihr habt von ihr gehört, der ersten und der dritten, der geistreichen geflügelten Instanz. Oh, sie weiß bestens bescheid. Was lacht ihr immer so dumm, wenn ich auf die Vögel unter dem Himmel zu sprechen komme!

Ich bin so müde! Da möchte ich keinen Fehler machen. Ihr tut mir von Herzen Leid, aber was solls! Es ist ja dafür gesorgt, daß es nicht so schnell aufhört. Er hat noch seinen Spaß daran, zu sehen, wie ihr euch zu Grunde richtet. Da hätte er, sagte er mir neulich, eventuell gespart, am Schluß noch als Richter aufzutreten. Nach all den Mysterienspielen, die er sich aus der Feder sog, zu denen ich mich hergegeben habe, hatte er gehofft, daß alles irgendwie gut würde.

Als ob ich euch nicht durch und durch kenne! Ihr wollt mich weich machen, das langweilt erbärmlich! Außerdem bin ich auch nur ein Mensch. Und erschöpft. Manchmal sehe ich dem Tod ins Gesicht und glaube es nicht, daß er, dieser wunderbare Freund, Maskierungen nötig hat. Ich liege und wünsche mir, daß er kommt, der Schlaf, der unerschöpflich erquickende. Ich bin auch einmal dran gewesen. Die Qualen hörten ganz plötzlich auf und ich glitt hinüber. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Danach kann man süchtig werden. Ich habe nie mehr so etwas erlebt.

Ich bin schlaflos in dieser Welt. Abends strecke ich mich dort am Hang aus und schaue einfach. Ich überblicke ein ziemliches Stück Land. Und mir wird seltsam zumute, wenn ich fühle, es gibt nichts, wo ich mich halten kann. Auch wenn es so aussieht, als läge ich im Gras, es sieht nur so aus. Ich habe keine Angst, meinen Anzug schmutzig zu machen, das ist es nicht. Aber die Welt, belastete ich sie tatsächlich, würde mich nicht ertragen. Ich schwebe natürlich, und unter mir wächst das Gras weiter, Halme für die Schafe, die morgen heran trotten. Auf einmal geht es mir wie den Jungen oder Verzweifelten. Leere Flaschen torkeln und tanzen um sie herum, wie schwach gewordene Kompaßnadeln: Himmel, die Welt dreht sich und die Ferne ist beunruhigend!

Die Litanei der Stimmen! Keine singt mir je ein Lullaby. Bei alledem die Penetranz der Dynastie! Das auch noch: Zeig dich dem Volk! Zeig dich dem Volk! Ich habe den Verdacht, sie lachen hinter vorgehaltener Hand. Darf man mal fragen, was es da zu lachen gibt? Liebe Familie, ihr wißt es doch: Dieses sich Verweigern gibt einem etwas bestrickend Vogelfreies. Aber gleich der gurrende, insistierende Hinweis: Schau mal dort unten, die Armseligen, neben den Autobahnen und Raststätten, wie sie sich opfern und erniedrigen, wie sie jedem Glück entsagen, um anderem nachzuhecheln. Ach Vater, rufe ich da. Ist nicht gut verzichten, wenn nichts weiter von Belang vorgesehen war? Waren wir uns nicht mal einig, daß es sich um eine Bande von Heuchlern handelt?

Auf diesen Platz kommen nachts junge Leute. Die haben so ihre starren Hierarchien und Regularien. Anders scheinen sie und doch vertraut. Sie entkleiden sich nicht beim Schlafen, sind hochgeschnürt bis an die Eisenherzen. Sie treten das Gras zu klumpigem Zellstoff. Wenn es ihnen gefällt, treten sie den einen, ihr Opfer, ins Gesicht. Sie haben ihn in einem Baum, einem Hochsitz angekettet, der isoliert auf der Wiese steht. Da spielen sie manchmal verrückt. Nebenbei erstechen sie die jungen Vögel in den Nestern rings in den Astgabeln, werfen sie hinunter auf den Boden. Sie haben lange Arme.

Du hast, ihr habt den längeren Atem. Meine Mutter geht über die Wiese. Sie meint im Stillen, ich sei noch immer gestorben und heult in ihren Ärmel. Ich kann nicht mehr nachvollziehen, was sie denkt. Ich gehe nicht mehr nach Hause. Nicht mehr so schnell! Sie zerstören meine Identität durch ihr Gerede. Über alles wollen sie mitreden, dabei muß ihr Blickwinkel ja ein anderer sein. Sie reden nur von denen, die es so oder so geschafft haben. Es ist nicht unbedingt ein böser Wille, der sie bewegt, obwohl Emotionen, man glaubt es kaum, mitspielen.

Ich höre die Musik an, die die jungen Leute in Rekordern mitbringen. Es sind Marschlieder. Es kommt durchaus vor, daß sie mitsingen, sich hineinmischen in den Chor, der sich da dunkel in der warmen Luft vernehmen läßt. Auch dieser Rhythmus, der gleiche Schrittlängen verlangt, hat etwas Berauschendes. Ein paar von ihnen sprechen über den Bund der Soldaten des einen Volkes. Sie haben ihre eigene Vereinigung gegründet und verbeißen sich den Schmerz, wenn sie sich mit ihren Messern gegenseitig tätowieren. Ich horche auf das, was der im Baumhaus Angekettete mir mit Galgenhumor gesteht: Ich war der Größte in der kleinsten Einheit, rein körperlich. Da mußte ich vorneweg marschieren, die Kleinen anführen. Ein Lied wurde angeordnet: Mädel, draußen ist es schön! Wir haben es im Kanon gesungen und als ich das Mäh-Mäh-Mäh- hörte, wußte ich, wo ich war. Eigentlich war es ganz lustig.

Dann schweigt er, denn sie kommen wieder mit ihren Messern und rohen Händen, zu ihrem Opfer und ich gehe, kann das einfach nicht mitansehen. Wo ich es doch am eigenen Leib erfahren habe. Vielleicht deshalb! Heilige Männer aus Indien gehen mir durch den Sinn und wenn ich bei ihnen bin, lenken mich die aufgesetzten Farben und Muster, in die sie sich kleiden und die wieder und wieder geschlagenen Gongs ab. Meine Brüder, die in ihre Leiber Verschlungenen, Verliebten, sind mir ein Rätsel. Und doch gehören auch sie mir. Auch die, die mit durchbohrten Wangen auf Marktplätzen stehen und Feuer fressen. Andere glauben längst weggegangen zu sein, in wüste Gegenden und stehen dort jahrelang auf einem Bein. Die Raserei ihrer Herzen kennt kein Erbarmen, sie schaffen sich am Ende, indem sie sich selbst Vergessen, aus dieser Welt.

Ich schaue ein paar Kindern über die Schulter. Man verlangt Kommentare zur Welt von ihnen, zeigt ihnen Bilder. Man will etwas aus ihnen herausbekommen. Die Prozedur wird vielen schwer und ich helfe ihnen ein wenig. Es soll irgendwie schlüssig sein und muß sich reimen, was sie da aufschreiben. Auf dem Monitor, auf den sie starren, erscheinen ganz reale Comichelden, die es bunt und blutig treiben. Denen gilt es, sich zu stellen. Einer der Kleinen fragt sich:

Im Traum
stand ich in einem großen Raum
Da machte jemand die Lampe an.
Oh Gott, was sah ich dann?


Ich helfe ihm etwas auf die Sprünge, so daß er weiter schreibt:
Das Monster, das in der Höhle wacht,
hat ein komisches Gesicht gemacht,
als es den Forscher zu sehen bekommt.
Doch der zieht seine Pistole prompt.
Das Monster sieht jetzt aus wie ne Kuh,
doch der Forscher paßt sich an im Nu.
Dann sieht es aus wie ein Löwe,
mir wärs lieber, es wär eine Möwe.
Es sagt zu mir: ich werd dich fressen,
das wirst du im Leben nie vergessen.


Der Kleine freut sich über das lange Gedicht, das ihm gelungen ist. Er fixiert mich, sieht dabei durch mich hindurch. Er rollt mit den Augen. Ich runzle die Stirn, und er tut, was ich tue, imitiert mich, daß ich kaum ernst bleiben kann. Dann schreibt er:

Auf dem Bild ist ein Palast,
die Monster haben sich angepaßt.
Andere stehen danebenund lachen über das Leben.


Dabei habe ich nur wegen der urkomischen Fratze gelächelt, die der Kleine zog.

Draußen auf dem Schulhof, die gierigen Riesenmöwen, reißen den Kindern das Brot aus der Hand. Darf der Mensch im Sinne seiner Selbsterhaltung Geschöpfe Gottes niedermachen? Die Möwen sind keine Tauben und auch die Tauben sind alles andere als friedfertig. Das ist nur ein Klischee, eine willkürliche Symbolik, die eingerissen ist. Das wurde mir von oben bestätigt. Oder? Ach nein! Betrachtet die Blumen auf dem Feld, Gänseblümchen oder Schwertlilien, wie sie unter den ihnen auferlegten Bedeutungen fast zusammenbrechen! Und doch, wie unvergleichlich und herrlich sie sich zur Erde krümmen. Ich fasse sie unters Kinn ihrer Blütenknospen und hebe ihr Gesicht gegen die Sonne. Wie sie schweigen! Wie sie ertragen! Und stumm bleiben!

Während andere sich wälzen und um Gnade betteln. Einigen wird sie gewährt werden. Kümmert euch, sage ich den Angehörigen. Bleibt wach, rate ich den Schweiß gebadeten Kranken, die sich langsam ihrer Schuld bewußt werden. Wenn ich vorbeikomme, will ich Licht im Fenster sehen! Da soll einer am Bett sitzen und auf die Atemzüge der Eingeschlafenen achten! Verlaßt euch nicht! Kann sein, daß man einen unbemerkt entführt, daß ich selbst einen mit mir nehme, nach draußen ins Mondlicht, auf die Wiese. Denn ich fühle mich einsam. Ich wandere auf der Welt und man nimmt mich kaum zur Kenntnis, schreit einfach ins Blaue. Sogar mein Vater, der ganz woanders ist, ruft in einer Anwandlung von Mitleid in meine Richtung: Seht, dort geht mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe! Früher hätte ich das noch für unglaublich gehalten. Oder bin ich bereits vergeßlichgeworden? Es ist wohl auch so, daß er sein Alter spürt.

Ich habe eine Methode entwickelt, abzuschalten. Seht mal, während ihr mir hier zusetzt, bin ich in Zentralafrika oder Indonesien. Das müßt ihr eigentlich verstehen. Die Sommer dort sind vielfältiger und ausgelassener. Mir ist, als ob ich mich dort ebenfalls vervielfältigen kann. Oh, ich überlege ernsthaft, ob ich mich gemein mache mit jenen Öl triefenden, mit Hühnerfedern beschmierten Götzen. Aber diese Form von Extase scheint mir verwehrt. Ich habe auch keinen Hunger auf solche Opfer. Für mich und meinesgleichen, das ewige Eis, die kargen Rollfelder der Zivilisation?

Heute weiden die Schafe unter mir. Ich fühle den wolligen Rücken der Tiere, die sich aneinander drängen. Neben den Vögeln sind mir die Schafe immer lieb gewesen. Das war schon so offensichtlich, daß man mich für ihren Hüter hielt. Ihr gedankenloses Blöken, ihr Hang zur Betäubung in der Masse! Diese drolligen Mäh-Laute in bestimmten Situationen! Damit verraten sie sich prompt, wenn sie sich abseits der Wege selbstständig machen. Einige Lämmer habe ich gerettet, ja. Doch der Hüter all meiner Brüder kann ich nicht sein, das überfordert mich wirklich. Wacht also beieinander in euren dunklen Nächten!

Dieses Blöken der Schafe, der Gesang der Wale! Mich rührt eine bestimmte Art von Musik, an meiner Stirn pocht meine musische Ader. Ich zeichne eine Hieroglyphe, ein Bild in den Sand und schreibe auf einen Stein: Alles was war, soll vergessen sein! Soll das heißen, fragt es in mir, daß du dein Tagwerk noch einmal beginnen willst? Nein! Ich sehe nur, wie unvollkommen die Welt beschaffen ist. Daß sie noch lange nicht ausgeschöpft ist. Ich mache andere darauf aufmerksam, während ich die Klagen abtue und nur noch meine Musik hören will.

Meine Wiese, ein Schlachtfeld! Auf jedem Quadratmeter verblutete ein Bauer oder ein Ritter. Alles ist im Wechsel rot und grün gewesen. In einem Gartenhäuschen saß an einigen Herbsttagen ein Kind mit einer gepuderten Perücke und übte auf einer Geige, bis es das Instrument beherrschte. Als es soweit war, riß es sich die Perücke vom Kopf. Hübsche Mädchen sitzen jetzt an Nachmittagen auf der Wiese. Fast nehmen sie meine Sitzhaltung ein. Ihre Augen gehen bis zum Horizont, sie scheinen zu sehen, was ich sehe. Sie haben vorsorgend Wasserflaschen mitgebracht, trinken ab und zu kleine Schlucke. Vielleicht dachten sie, daß es in dieser Gegend weder Quellen noch Getränkestände gibt. Oder sie leiden an einer heimlichen Angst, innerlich auszutrocknen. Ich glaube, daß es sie vor allem nach einer Art Schlichtheit oder Reinheit verlangt. Das Wasser in ihren spiegelnden Flaschen ist lauwarm und ähnlich verschmutzt wie ihre der Sonne ausgesetzten Gliedmaßen.

Dort steht der einzelne Baum mit dem versteckten Zimmer. Es ist ganz still. Für heute haben die Jungen, die Verzweifelten ihre Marschlieder ausgesungen. Samtene Nacht lagert im grünen Laub. Der Gequälte schaut mir in die Augen, und ich sehe, wie ein seltenes, fast euphorisches Licht in seinen Pupillen die Oberhand gewinnt. An seiner Seite sitzt ein kleines menschliches Skelett, aus Plastik oder gelblichem Elfenbein. Der Wind schlägt die Knöchlein gegeneinander, der kleine Totenschädel grinst. Und ich höre mich sagen: Was kann ich tun?Das Skelett nimmt die weiche Hand des jungen Mannes, ein pyknischer Typ, und meine schlanke Langfingrige. Das kleine Gerippe bringt es fertig, beide in seiner winzigen fleischlosen Kralle zu halten. Mein Bruder, der Tod, scherzt gerne. Ich frage noch einmal: Was kann ich tun?

Da öffnet der Junge den Mund, und Blut und Wasser fließen heraus.Du sollst mir nur folgen, sagt er dann etwas schwerfällig. Mit mir die Wege gehen, die Plätze aufsuchen, die ich deiner Aufmerksamkeit empfehle. Ich habe etwas für dich, sagt sein euphorischer Blick. Er will mich geradezu verhexen, ich spüre es. Wo ich doch müde bin zum Gott Erbarmen. Der Junge muß sich übergeben, danach fühlt er sich leichter. Hört ihr die Schreie, frage ich die beiden neben mir. Und jetzt das gehässige Gemurmel: Sitzt da und rührt keinen Finger! Ach, kann ich nicht endlich die Ohren vor all dem verschließen? Der Pykniker sagt mit seiner schwachen Stimme: Mach dir nichts draus! Ich habe ein Mittel dagegen. Der Junge hat so blaue Augen. Das Skelett schüttelt seine Nacktheit, sagt: Wir gehen ans Meer!

Ans Meer? Eine gute Idee, sage ich. Die Brandung ist oft so laut, daß sie die Hilferufe schluckt. Wir stehen am Strand, es könnte Hawai sein, und sehen zu, wie sich der Ozean überschlägt. Ich wollte es immer tun, habe so oft daran gedacht, erzählt der Junge, dem es jetzt sichtlich besser geht. Es ist eine Sehnsucht, die ich im Leben nie benennen, nie stillen konnte. Das kleine Skelett zeigt auf einen der Surfer und lacht erregt. Das gischtige abfließende Wasser hängt sich in weißen Bläschen zwischen seine Zehen. Die feuchte Luft in meinem Gesicht, der strenge Geruch weckt mich aus Träumen, die sich bei mir nur andeuten, nie entfalten, denn es sind immer Tagträume, ohne den Rausch nächtlicher Verwandlung.

Auf den Gipfeln der Kämme, junge Götter mit gehärteten Körpern! Sie sehen uns nicht. Halten sich geduckt bereit, breiten schon die Arme aus. Wann ist der Moment gekommen, sich aufzurichten, wie halte ich das Gleichgewicht? Es zieht sie ins Infernalische. Sie spielen Roulette, indem sie den Kopf benutzen. Wind und Wellen winseln unter ihren Füßen. Sie wollen gar nicht durch die Wand und rutschen nicht aus an den steigenden Wasserfällen. In windigen Fahrstühlen katapultiert es sie in die Höhe wie in die Tiefe. Vielleicht haben sie es wirklich herausgefunden, wie man sich anpaßt, um heil heraus zu kommen. Sie schneiden meinen Traum. Und tauchen im gegebenen Fall unter. Lassen sich verschlingen von den gläsernen Türmen, die nicht zusammenstürzen, sondern sich zu stählernen Röhren rollen. Ihre Gestalt ist immer fließend, das hatten wir so vorgesehen. Aus ihnen gehen die Männer unverletzt hervor. Aus ihrem Haar schleudern sie das blitzende Wasser wie Gnadengeschenke auf den Strand.

Bei den Wasserfällen, tanzende Mädchen, die mit den Zuckungen ihres Bauchs etwas erzählen, wofür keine Schrift vorhanden ist. Sie singen von Tsunamis, siebzehn Meter hohen Flutwellen, die die Küsten verwüsten. Dann laufen sie zu den Männern und schmecken deren salzige Haut. Aber die Männer beachten sie nicht. Fahren in ihren Booten aufs tiefere Meer hinaus und springen dort über Bord. Auf dem Meeresgrund liegen Felsblöcke. Man hat sie extra hier hinab gestürzt. Die Taucher packen sich einen der Brocken und schleppen ihn mit schweren Schritten, die den Sand aufwirbeln, soweit wie sie können und so schnell wie es ihnen nur möglich ist. Ein Wettspiel auf dem Meeresgrund? Das Ganze soll die Lunge, die Atmung trainieren. Wenn es die Surfer einmal minutenlang unter Wasser drückt, werden sie länger widerstehen können. Das Spiel geht in angenehmer Stille vor sich. Nur das unterdrückte Glucksen zäh sich lösender Luftperlen umgibt sie, beinahe platzt ihnen die Brust. Manchmal hört einer den sehnsüchtigen Ruf eines Wales.

Mein Bruder hat mich ermutigt: Komm schon! Was hast du zu verlieren, fragt er. Ach, es ist herrlich! Ein paar Mal habe ich es inzwischen getan. Ich fahre hinab in den rauschenden Tunnel, dann wieder hinauf ans Licht. Ich lege Spuren, die sofort hinter mir verwischen. Gott sei Dank! Ich rase und gleite, ich stürze und reite und lasse mich überrieseln von prickelnden Atomen. Ich hoffe nicht darauf, etwas Neues an den Tag zu bringen oder weiter zu schöpfen, wo er aufgehört hat. Da ist nur für Sekunden eine Andeutung von Harmonie, ich gehöre zu dieser Woge, die ich von Anbeginn kenne. Und, was ich kaum noch für möglich hielt: Dort, wenn sie sich über mich beugt, im stählernen Kanal, herrscht für Augenblicke Ruhe. Der Pykniker liegt atemlos, mit grauem Gesicht in der Sonne. Seine letzten Worte waren: Liebst du sie jetzt nicht auch ein wenig, diese wunderbaren Extremsportarten? Wenn ich ihn so ansehe, kann ich ihn verstehen.

dieser Text erschien erstmals in „Der Rabe 57“, Haffmans Verlag Zürich, 1999