Bremer Rede

Christa Estenfeld’s
Rede zum Bremer Literaturpreis 2000
am 26.01.2000 Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung

Sehr geehrte Damen und Herren, Mitte der 80er Jahre muss es gewesen sein, als ich in Berlin war, um eine frühere Schülerin und Studentin der Kunstgeschichte, sowie die Berlinale zu besuchen. Es wurde eine interessante Woche in all diesem Berlin, zu dem es mich vorher nie gezogen hatte, die Rockkonzerte in alten Kinokatakomben, wo der Staub die Stimme des Sängers nicht erstickte, sondern herrlich knistern ließ, die Vorträge des Freundes meiner Schülerin in den Museen, anstrengend, der Junge war nicht zu bremsen, über jedes Professorenniveau erhaben, die kunstvoll verschmutzten End-Art-Galerien, die Geisterbahnhöfe und einbetonierten Installationen, die Filme. Ich bin eine passionierte Kinogeherin. Da vergesse ich mich manchmal, bin nicht wegzukriegen. Mitten in Berlin fingen mir also die Augen an zu brennen, ja zu tränen. Das Handykap blieb mir die nächsten Tage erhalten. Ich nehme an, dass es vor allem eine allergische Reaktion auf den Wechsel einer Hautcreme war. Es war unangenehm. Und als wir nach Ostberlin wollten, im Kontrollschlauch, betrachtete mich der Grenzer in seinem Glaskästchen, dem mickrig geratenen Ticketstand, mit gerunzelter Stirn. Die anderen passierten anstandslos und ich fühlte mich leicht ärgerlich werden, weil ich zurückgehalten wurde. Ich kam eindeutig nicht gut weg, beim kritischen Vergleich zwischen Passbild und tatsächlich anwesender Physiognomie. Ich wollte schon etwas sagen wie, machen Sie sich keine Gedanken, ich bin das wirklich, da verzog er das Gesicht. Beim neuesten Film von Woody Allan, leider einer Hommage an Ingmar Bergmann, hatte ich zweimal furchtbar lachen müssen, an Stellen, wo Woody es sicher nicht vorgesehen hatte. Dieses Lachen war es nicht, was mir jetzt Tränen in die Augen trieb. Nachdem mich der Grenzbeamte in der Schleuse anscheinend doch erkannt hatte, blieb bei ihm der Eindruck, die hat vor kurzem tüchtig geheult. Da ich aber trotz der verschwollenen roten Augen ganz munter schien und beinahe energisch meine Hand in Richtung Pass schob, nickte er schließlich, verschmitzt lächelnd, auch etwas hintergründig, ähnlich wie ich. Ein wenig fühlte er mit mir, ein wenig tat ich ihm leid. Vielleicht empfand er auch mein unwissendes, mitleidiges Bedauern, mit dem ich von Anfang an zu ihm aufgesehen hatte.Ein Missverständnis? Eine Überlappung eher, die zu einer Schnittstelle wird. Der junge Mann hat mir die Karte dann ausgestellt, mit der ich in sein Land und wieder zurück durfte.Solche Einschnitte und Legitimationsausweise sind Glücksfälle im oft atemlosen Rennen. Gut, dass es diese Momente gibt, wo ich mich plötzlich angehalten und befragt fühle, ob ich noch ich sei, wo meine Identität auf keinen Fall feststeht. Auch der Preis heute ist so ein Beleg. Ich höre, es darf weitergehen. Es ist schon weitergegangen, unabhängig von allem.Die Erinnerungen bleiben, an Landschaften und Menschen. Einmal stand „Grafikerin“ auf meiner Kennkarte. Von den Leuten aus der Werbebranche, die fast rund um die Uhr in ihren Arbeitsräumen lebten, ging etwas Hingegebenes, ja Waghalsiges aus. Vor ein paar Wochen überspannte ein Transparent meine Araltankstelle. War hier ein Streik angesagt? Es interessierte mich, mit was ich aufgerüttelt werden sollte. Da las ich das nostalgische Zitat „Weine nicht, wenn der Regen fällt“, Worte, die dieser Exhibitionist mit der rauhen Stimme, ich glaube in der Zeit der 68er Umzüge herausgeschrieen hat. Oh, ihr vertrackten Texter, ihr Poeten des Banalen, es ist immer unser Credo, uns möglichst klar auszudrücken und auf kontrastreichen Bildern zu bestehen.Ich bin eine Bildermacherin, die das Schreiben liebt. Seit ungefähr zehn Jahren hat sich diese Sache ernsthaft entwickelt. Mein Schreiben verrät meine Bilder nicht, aber alles hängt aneinander und ohne die Bilder würde es vielleicht keine Texte geben.Ich mag diese Fotografie eines jungen Mannes im Sonntagsanzug mit Melone. Es ist nicht Charly Chaplin, doch auch er liebte das Kino. Ich fand von Anfang an nichts Befremdliches und Erschreckendes in seinen Erzählungen. Beglaubigungen für einen Beruf, ein geglücktes Leben in Eisnebel verhangenen Schlössern oder in einem fernen Amerika zu bekommen, das ist nun mal ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen.Sehe ich mir Bilder an, stört mich oft das geringste Wort. Bei ihrer Entstehung jedoch kann Musik sehr willkommen sein. Oh, sie kann die Sache vorantreiben, den Rausch verstärken. Ich danke dem Maler H. J. Kropp, der mir zeigte, wie es möglich ist, in Nächten bei Frank Zappa und den Ungarischen Tänzen Ströme von Bildern fließen zu lassen. Herr Gauguin auf seinen Inseln hatte sich der Malerei ganz ausgeliefert. Ihm war sie die schönste aller Künste, die Summe allen Fühlens. Mit einem einzigen Blick, so schrieb er, kann jede Seele in die tiefsten Erinnerungen tauchen, denn ohne Anstrengung des Gedächtnisses kehrt alles in einem einzigen Augenblick zurück. Musik und Schreibkunst benötigten für ähnliche Wirkungen die zeitliche Abfolge von Tönen und Worten. Herr von Hofmannsthal hat dies vor den Werken van Goghs ähnlich empfunden, das plötzliche, gleichzeitige Ergriffensein durch Außen und Innen. Farbe, Farbe, ruft er. Ihm erscheint das Wort zu armselig für die hundertfache Stärke, für Wucht und Fremdheit, die sich vor ihm auftat und ihn umschlang. Van Gogh faselte in euphorischen Zuständen von der Hochzeit zweier Komplementärtöne und ernährte sich gegebenenfalls von dem Brei, den er direkt aus den Farbtuben auf seine Leinwand drückte, nahm es hin oder dachte nicht daran, dass sie ihm am nächsten Tag schmerzhaft fehlen würden und er nicht mit dem Malen weiterkam. Sein Leiden muss furchtbar gewesen sein. Das Rosa und das Grün trugen ein üppiges Gift. Das Paradies hat auch Gauguin nicht gefunden. Natürlich, sagt Hofmannsthal, warum sollen nicht die Farben auch Brüder der Schmerzen sein?Ich verwende die vielfältig zusammengesetzte Farbe. Hofmannsthal nennt sie: Diese Farbe, die ein Grau war und ein fahles Braun und eine Finsternis und ein Schaum, in der ein Abgrund war und ein Dahinstürzen, ein Tod und ein Leben, ein Grausen und eine Wollust. Dazwischen blitzen ungemischte Töne, sie sind mir gleich kostbar wie dieses Grau.Heute verbringe ich einen guten Teil meiner Zeit in Zeichensäälen, dort hatte ich mich auch einmal frei gefühlt. Ich sitze auf Schulbänken, habe den Raum, wenn auch seitenverkehrt, wieder vor Augen, Bilder, die wie Seerosen über die Wände, über Gartenteiche gleiten und die Kinder. Sie hören von den Künstlern auf ihren Inseln. Sie lachen und sagen, wie abartig das Eine oder das Andere sei. Im Grunde verstehen sie es nur zu gut. Auch sie können es einmalig, wenn sie wollen. Auch an ihnen haftet etwas Hingegebenes, ja Waghalsiges. Außerdem etwas unsagbar Hilfloses. So kann plötzlich ein Junge herein stürzen. Möglich, dass er draußen noch einen Satz auf den Lippen hatte. Dann wäre es wie in einer Talkshow. Doch jetzt ist er ganz leer, ein unbeschriebenes Blatt, er stellt sich nicht vor. Viele Male sticht er zu. Er weiß nicht, ob er etwas gespürt hat. Später sagt er, er hätte abgrundtief gehasst. Man hat auf ihn gewettet. Plötzlich hatte er so etwas wie Anhänger, die konnte er doch nicht enttäuschen.Ich suche die Bilder und Geschichten nicht, sie stehen mir vor Augen. Vielleicht sind das meine Schulaufgaben.Lange hat meine Sätze niemand ansehen wollen. Dann habe ich großes Glück gehabt und jemand ist auf das, was ich geschrieben habe, aufmerksam geworden. Ich danke besonders Herrn Heiko Arntz für seinen ersten Brief, das erste Telefonat, die erste für mich so wichtige, so positive Resonanz. Ich danke für den Bremer Förderpreis der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung. Vielen Dank der Jury! Es ist jetzt keine so einsame Beschäftigung mehr, mich auf den Schauplätzen meiner Erzählungen und Romane zu bewegen, die nur auf den ersten unkundigen Blick wüst oder verloren wirken.All das sind natürlich nichts als Worte. Sie sind vielleicht etwas umständlich, denn sie benötigen Zeit ausgesprochen oder gelesen zu werden, die Wirkung ist nicht auf den ersten Blick da. Aber die Worte sind mir in all den Jahren wie favorisierte Kinder ans Herz gewachsen. Man wird sehen.